Als mit Beginn (und Verlauf) der Krise alle Jobs von Moritz Küstner abgesagt wurden, hat er die Zeit genutzt und sein bislang größtes freies Projekt in Buchform gebracht – die Kickstarter-Kampagne dazu ist gestartet. Darüber und über die Zukunft des Fotobuches allgemein (und einiges mehr) hat er mit den #FacesOfPhotography gesprochen:
Wie bist Du bis hierher persönlich und fotografisch durch die Krise gekommen?
Ich habe die Krise anfangs als Chance wahrgenommen. Als Chance, mir endlich wieder Zeit zu nehmen für eigene Projekte und zu überlegen, was mir in der Fotografie wichtig ist und was ich mit meiner Fotografie erreichen will. Ich merke immer wieder, dass mir für solche Gedanken im normalen Job-Alltag kaum Zeit bleibt. In dem Zuge plante ich auch mehrere freie Projekte.
Allerdings wurde unser familiärer Alltag durch die fehlende Betreuung meiner beiden Kinder komplett auf den Kopf gestellt. Als Selbstständiger war ich der flexiblere Part von uns beiden Eltern, also habe ich große Teile der Betreuung übernommen. Deshalb musste ich recht bald feststellen, dass ich mit zwei Kindern zu Hause kaum freie Kapazitäten für kreative Schaffensprozesse hatte.
An einer freien Geschichte über die Auswirkung der Corona-Krise auf die Drogenszene in Hannover habe ich gemeinsam mit dem befreundeten Journalisten Gerd Schild angefangen zu arbeiten. Es tat mir gut, weiter zu fotografieren. Und auch mein lange geplantes Buchprojekt „Silence is the Sound of Fear“ habe ich geschafft voranzubringen.
Du hast die Zeit für ein erstes eigenes Buchprojekt genutzt – was hat es damit auf sich?
Schon Anfang des Jahres hatte ich begonnen, an meinem Buch „Silence is the Sound of Fear“ zu arbeiten. Das Buch beleuchtet die Entwicklungen auf der Krim, seit der Annexion der Krim durch Russland, und beschäftigt sich besonders mit dem Leben der Krimtataren, einer muslimischen Minderheit. Die Fotos dazu waren in den vergangenen fünf Jahren entstanden. Das war die längste Zeitspanne, über die ich bisher an einem Thema gearbeitet hatte. Ich wollte das Projekt gerne in Form eines Buches veröffentlichen, um ihm damit für mich persönlich einen geeigneten Abschluss zu geben und auch all den Inhalten, den festgehaltenen politischen Entwicklungen und persönlichen Schicksalen gerecht zu werden.
Häufig bleiben bei mir die eigenen Herzensprojekte, wie eine solche Buchveröffentlichung, liegen, wenn die tägliche Auftragsfotografie mich einnimmt. Als mit Ausbruch von Corona aber dann alle Aufträge abgeblasen wurden, bekam dieses Projekt oberste Priorität. So schaffte ich es endlich, gemeinsam mit den Grafiker Sven Lindhorst-Emme und der Bildredakteurin Cale Garrido, die Bildauswahl und Buchgestaltung abzuschließen. Jetzt fehlt nur noch die vollständige Finanzierung, an der ich gerade mithilfe der Kickstarter Kampagne arbeite, damit im August das Buch beim Kettler Verlag erscheinen kann.
Inwieweit denkst Du haben Themen außerhalb von Corona jetzt und in Zukunft – auch in Buchform – eine Chance?
Ich finde es extrem wichtig, dass hinter dem „Großthema Corona“ bestimmte Themen nicht in Vergessenheit geraten. Vieles ist untergegangen in der Krise und muss jetzt aktiv wieder auf die Bildfläche geholt werden. Themen wie Polizeigewalt und Rassismus haben es dank #blacklivesmatter geschafft, wieder an medialer Präsenz zu gewinnen.
Zugleich hat Corona ja bei einigen Menschen einen Sinneswandel bewirkt: Weg von der Schnelllebigkeit des Alltags, von schnellem Konsum hin zu mehr Bewusstheit und Selbstreflexion. Wenn wir Glück haben, könnte dieser Bewusstseinswandel auch für journalistische Nischenthemen und für das Medium Buch, eine Chance bergen.
Ich hoffe, dass sich die Menschen (mehr) Zeit nehmen zum Lesen und zur Auseinandersetzung mit anderen Lebensrealitäten. Wenn jetzt etwas mehr Menschen die Möglichkeit wahrnehmen, über andere Vorstellungen eines guten Lebens oder über fremde Schicksale nachzudenken, ist sehr viel gewonnen. Und Journalismus (ob in Buchform oder nicht) kann einen Teil dazu beitragen.
Und wie ist es Deiner Meinung nach mit der Fotografie allgemein?
Es ist ja insgesamt auffällig, dass die visuelle Ebene in den meisten Medien und auch in der Kommunikation einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Die Gewichtung von Text und Bild in Zeitungen, Zeitschriften etc. verschiebt sich, Kurznachrichten lösen schon lange den Brief und inzwischen auch die Mail ab. Smileys, GIFs, Grafiken und eben auch Fotos dominieren unseren medialen Alltag. Deshalb gehe ich eigentlich davon aus, dass die Fotografie weiterhin ein wichtiges Medium bleibt.
Zuguterletzt: Was wünscht Du Dir fotografisch für die Zeit, die da kommen mag?
Ganz persönlich wünsche ich mir, frei von existentiellen Ängsten arbeiten zu können, also genügend Aufträge für meinen Lebensunterhalt und Fördermittel für die Realisierung meiner freien Projekte zu erhalten. Momentan steht da die Realisierung meines Buches an erster Stelle.
Allgemein denke ich aber, dass die Fotografie in der Zukunft viel diverser werden muss, um uns neue Sichtweisen fernab von unserer Realität oder Blase aufzeigen zu können. Damit Journalismus uns nicht nur Antworten liefert auf die Muster, die wir schon kennen, müssen auch die Bilder von Fotograf*innen gesehen werden, die eine andere Herkunft, Geschlechtsidentität und ethnische Zugehörigkeit haben oder aus anderen sozialen Schichten stammen als wir selbst. Wenn das gegeben ist, können Bilder uns auf besonders direkte Art helfen, einen Zugang zu Themen zu gewinnen und uns neue Betrachtungsebenen zu erschließen.
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*Das Bild von Moritz hat Mario Wezel fotografiert.
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