Frauen auf Bäumen – oder wie aus einer Sammelleidenschaft ein Buch wurde

Es ist fast ein modernes Märchen: Seit bereits 25 Jahren sammelt fotogloria-Mitbegründer und Geschäftsführer Jochen Raiß historische Amateuraufnahmen – um sie vor dem Vergessen zu retten, zu seiner eigenen Freude, einfach, weil es schöne Bilder sind. Nach all den Jahren beschließt er, auch mal andere Menschen einen Blick auf seine Kollektionen werfen zu lassen und tippt auf der Frankfurter Buchmesse der erstbesten Frau auf dem Stand des renommierten Verlages Hatje Cantz auf die Schulter. Wie sich herausstellt, ist er in dem Moment auf Ulrike Ruh getroffen, ihres Zeichens Programmchefin des Verlages. Der Rest ist das Happy End des Märchens: Nur knapp 6 Monate später ist der Bildband »Frauen auf Bäumen« erschienen.

Wir haben mit Jochen und mit Ulrike Ruh über das Buch gesprochen.

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fotogloria:  Jochen, Du sammelst seit 25 Jahren historische Amateuraufnahmen – kannst Du Dich an Deine erste Frau auf einem Baum erinnern?
Jochen Raiß: Ja, das kann ich. Das war in Frankfurt, während meines Studiums vor etwa 24 Jahren. Es zeigt eine Frau auf einem Baum in einem Kleid. Es sind eher Tanzschuhe mit Absatz, als geeignetes Schuhwerk zum Erklimmen eines Baumes. Das war natürlich ein toller Fund. So etwas hatte ich zuvor noch nicht gesehen.

Und was hast Du gedacht, als Du die zweite, dritte, vierte… Frau auf einem Baum gefunden hast?
Da habe ich mich sehr gefreut. Beim ersten Mal dachte ich »Super, toller Schnappschuss«. Beim zweiten, dritten und vierten habe ich mich zwar gewundert, dachte aber immer noch nicht an eine Serie.

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Wie viele Frauen auf Bäumen hast Du denn insgesamt im Laufe der Zeit zusammen getragen? Und wo hast Du sie gefunden?
Im Vorwort zum Buch schreibe ich 91 Motive. Das war im März, mittlerweile habe ich über 100, was auch daran liegt, dass mir aufgrund des Artikels bei SPON über die Strecke einige nette Menschen  »Frauen auf Bäumen« geschickt oder im Scan zur Verfügung gestellt haben. Auch Tipps und Hinweise zu »Frauen auf Bäumen« auf Verkaufsplattformen im Internet habe ich erhalten!

Die Bilder lagen die ganzen Jahre über in Deinem Archiv, wie kam es dazu, dass Du sie aufgearbeitet hast?
Ich sammele ja wirklich schon sehr, sehr lange. Und lange Zeit nur für mich im Stillen. Ich dachte, dass das ein Hobby ist, das nicht wirklich andere Menschen interessiert. Das dem doch so ist, habe ich im Sommer 2014 erfahren, als ich meine erste Ausstellung hatte.
Zu der Ausstellung kam es eigentlich durch einen Zufall. Ich hatte zu der Zeit gerade mit dem Scannen einiger meiner Bilder begonnen, um sie einmal auf dem Bildschirm anzuschauen. Und auf dem ersten Scan entdeckte ich auf dem Bildschirm in der Vergrößerung eine Person im Fenster, die ich zuvor nie gesehen hatte. Das war natürlich unheimlich aufregend. In diesen Tagen lernte ich auf einer Party eine Frau kenne, die eine kleine Galerie betreibt. Ich erzählte Ihr von meiner Entdeckung, weil ich so begeistert davon war. Sie brachte mich schließlich dazu, bei ihr auszustellen.
Normalerweise erzählte ich zu dieser Zeit gar nicht oft von meinem Sammeln. Selbst Freundinnen und Freunde haben sich  gewundert, als sie dann eine Einladung zu der ersten Ausstellung bekommen haben. Und die Ausstellung war für mich ein prägendes Erlebnis.
Ich hatte so viele tolle Gespräche und Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen. Leute, die extra zu der Ausstellung kamen, zufällig vorbeikommende, Anwohner, etc. Junge Menschen, Alte, in meinem Alter und so weiter. Wirklich jeder, der in die kleine Galerie kam, hat ein Foto gefunden, das ihn/sie auf irgendeine Weise angesprochen hat – das war einfach wunderbar. »Meine« Bilder, die ich schon so lange besitze, waren auf einmal öffentlich und ich durfte/konnte/musste mich darüber austauschen. Klasse! Super Erfahrung.
So kam es dann, dass ich mir eine Website gestaltet habe und die verschiedenen Kollektionen dort zum Teil jetzt vorstelle. Von Anfang an war »Frauen auf Bäumen« eine, oder gar die Lieblingskollektion!

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Und nun hat der Verlag Hatje Cantz einen Bildband mit den »Frauen auf Bäumen« herausgebracht – wie kam es dazu?
Ich war letzten Herbst für fotogloria auf der Buchmesse. Auf dem iPad hatte ich ein PDF der »Frauen auf Bäumen« dabei, weil ich einfach einmal herausfinden wollte, wie Kunstbuchverlage dem Thema Amateurfotografie, beziehungsweise historischer Amateurfotografie gegenüber stehen. Ich ging also an den Messestand von Hatje Cantz und sah eine Dame, die nicht im Gespräch war. Ich sprach sie an – wie sich später herausstellen sollte, war es Ulrike Ruh, Programmchefin bei Hatje Cantz. Auf die Frage hin, ob sie einen Moment Zeit hätte, antwortete sie sinngemäß »natürlich nicht«, denn ihre Termine waren alle vergeben. Worum es denn ginge, fragte sie mich. Ich erklärte ihr daraufhin, dass ich seit etwa 25 Jahren historische Amateuraufnahmen sammeln würde und hätte ein PDF mit dem Titel »Frauen auf Bäumen« dabei, das ich ihr gerne einmal zeigen möchte. Ihre Reaktion war, wie bei vielen noch dieser Tage, wenn ich von den »Frauen auf Bäumen« erzähle, ein Schmunzeln! Sie sagte mir dann, dass ihr Termin etwa eine halbe Stunde dauern würde und ob ich nicht danach nochmal kommen wolle, dann würde sie es sich gerne einmal anschauen.
Nun ja, und dann ging ich nach der verabredeten Zeit nochmal hin und wir unterhielten und sehr lange und angeregt über das Sammeln, Fotografie – und über die »Frauen auf Bäumen«!
Irgendwann sagte sie dann zu mir, »wissen sie was Herr Raiß, ich möchte gerne etwas mit den Bildern machen. Muss aber einschränkend sagen, dass ich sie zunächst meinem Team in Stuttgart vorführen will, um heraus zu finden, ob sie auch so spontan begeistert sind, wie ich gerade«. Waren sie.

Frau Ruh, Jochen Raiß ist ganz spontan auf der Frankfurter Buchmesse auf Sie zugekommen – was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie die »Frauen auf Bäumen« gesehen haben?
Ulrike Ruh: Beim ersten schnellen Durchklicken der Fotos auf dem Tablet habe ich erstmal gelacht und mich gefragt, wie es die Frauen mit Seidenstrümpfen ohne sichtbare Laufmaschen und im Rock – nur wenige tragen Hosen – überhaupt auf die Bäume geschafft haben…
Doch war ich beeindruckt von der Qualität dieser Amateuraufnahmen bezüglich Komposition und Ausdruck. Jedes Foto hat eine andere Atmosphäre. Gesichtsausdruck, der ausgewählte Baum und die Art der Pose, scheinen auch etwas über die Persönlichkeit der Frauen zu verraten – manche stehen auf dem Ast wie Kapitäninnen auf ihrem Schiff, andere stehen mit wildem Blick auf einem zerzausten Ast…

Wie und warum haben Sie sich entschieden, das Buch zu verlegen?
Ulrike Ruh: Für mich war sehr schnell klar, dass ich mit den Fotos ein Buch machen wollte und hatte von Anfang an eine konkrete Vorstellung davon, wie es aussehen sollte. Letztlich konnten sich dann auch die Kollegen dem Witz und Charme des Materials nicht entziehen, und wir haben uns dazu entschlossen, dieses außergewöhnliche Bändchen zu publizieren.

 

Jochen, wie war die Zusammenarbeit an dem Bildband?
Die Zusammenarbeit war und ist bis heute sehr eng und sehr gut. Denn selbst jetzt, wo das Buch erschienen ist, habe ich noch Kontakt zur Presseabteilung und zum Vertrieb. Es kommen immer neue Anfragen, bisher vor allem aus dem Ausland.
Aber von vorne: Ende Februar kam der Anruf, dass Hatje Cantz ein Buch mit den Frauen auf Bäumen machen möchte. Ulrike Ruh rief mich an und sagte mir außerdem, dass der Verlag es gerne zur Art Basel fertig haben möchte. Also von da an noch ungefähr 14 Wochen. Nicht unmöglich, aber knackig. Zunächst mussten die Bilder nochmals von einem Profi gescannt und bearbeitet werden, ein Vorwort musste geschrieben werden. Der Profi zum Scannen war Jan Scheffler. Ich bin dann also nach Berlin gefahren, im Gepäck die historischen Fotos der Frauen auf Bäumen, weil ich mir nicht vorstellen konnte, sie in einem  Paket auf die Reise zu schicken. Alles richtig gemacht, denn Jan empfing mich und die Bilder sehr herzlich und erläuterte mir sehr genau die einzelnen Schritte, scannen, bearbeiten, welches Papier er für das Buch dem Verlag vorgeschlagen hatte, etc. Und die Scans wurden ausgezeichnet. Vorher sah man – etwas übertrieben ausgedrückt – einen Baum, auf dem eine Frau saß. Nun sah man sogar die feinste Maserung der Baumrinden – unglaublich was da noch an Zeichnung möglich war. Bei diesem Berlin-Aufenthalt lernte ich auch Frauke Berchtig kennen, die mein Buch als Projektmanagerin von Anfang an begleitete. Die tolle Gestaltung hat Gabriele Sabolewski umgesetzt. Mit ihr besprach ich dann auch Titelmotiv, Andrucke, Satzfahnen, Blaupausen, Korrekturen, etc. Dem ganzen Team von Hatje Cantz also nochmals: Herzlichen Dank!

Wie war es für Dich, als Du das erste Mal das Buch in den Händen gehalten hast?
Es war natürlich sehr aufregend. Es ist ja mein erstes Buch! Anlässlich des Fotofestivals »Horizonte« in Zingst an der Ostsee Ende Mai, wo auch einige meiner »Frauen auf Bäumen« in der Gruppenausstellung »One World« gezeigt wurden, sah ich das Buch etwa zwei Stunden vor der Ausstellungseröffnung zum ersten Mal. Es wurde direkt von der Druckerei dorthin geliefert. Im wahrsten Sinne des Wortes druckfrisch. Vielen Dank auch hier nochmal an das ganze Team von Hatje Cantz, die dazu beigetragen haben! Es war ein ganz wunderbarer Tag!

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Frau Ruh, die »Frauen auf Bäumen« sind offenbar ein international interessantes Phänomen.Haben Sie damit gerechnet?
Ulrike Ruh: Da kann man sich ja nie ganz sicher sein, aber ich hielt die Wahrscheinlichkeit, dass es sich so entwickeln würde, für hoch. Dass es nun auch so eingetroffen ist, macht uns im Verlag sehr glücklich.

Mittlerweile berichten internationale Medien wie Vogue Italien, AnOther Magazine & Co. über das Buch, Du gibst Radio-Interviews und Anfragen vom Fernsehen hat es auch schon gegeben – wie fühlt sich das an?
Es passiert gerade soviel – nationale und internationale Presse berichtet darüber. Ich habe Libération aus Frankreich ein Interview gegeben, Vogue Italien, SZ-Magazin, Gala, Radio-Interview für den Bayerischen Rundfunk um nur einige zu nennen, dazu die Anfrage vom Fernsehen… alles richtig klasse! Aber ich freue mich am meisten darüber, dass die Frauen auf den Bäumen jetzt einem breiteren Publikum vorgestellt werden. Gerade wenn ich Bilder auf auf dem Flohmarkt finde, dann sind sie kurz davor verloren zu gehen, weggeworfen zu werden. Ich habe dies schon sehr oft erlebt, wenn der Flohmarkt zuende geht und die Händler aussortieren nach »noch gut fürs nächste Mal« oder »wegwerfen«. Ist das nicht tragisch? Da achten wir das ganze Leben darauf, unsere Fotos – die Erinnerungen und die damit verbundenen Geschichten – gut zu behandeln und dann kann es sein, dass sie im Müll landen… Für mich ist all das Sammeln also auch eine Verbindung zur Vergangenheit. Und gegen das Vergessen.

Welches ist denn Ihr persönliches Lieblingsbild, Frau Ruh?
Ulrike Ruh: Da gibt es viele, aber zu meinen Favoriten gehört ein Foto, auf dem eine Frau mit einem Arm übermütig am Ast baumelt. Es ist auf der Rückseite des Umschlages abgebildet.

Und Jochen, was wünscht Du Dir außerdem für Deine »Frauen auf Bäumen«?
Einen Wunsch habe ich tatsächlich. Dass sie alle zusammen einmal nebeneinander an der Wand hängen, eine Ausstellung also. Verdient haben sie es!

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P.S.: Selbstverständlich kann man die Bilder über fotogloria lizensieren oder direkt für die Wand als Print bestellen, bitte HIER entlang.