Horizonte Countdown 2016 | Jochen Raiß

Jedermanns Fotos entstehen, wenn ein flüchtiger Moment für die vermeintliche Ewigkeit festgehalten werden soll. Gefühle werdem konserviert, ebenso wie Erinnerungen. Doch was passiert, wenn die Menschen mit ihren Gefühlen und Erinnerungen auf den Fotos längst tot sind, wenn die Abzüge in Schachteln landen? Wo bleiben dann all diese besonderen Augenblicke?

Fotos füllen sich immer dann mit Leben, wenn sie einen Betrachter finden. Einen, der sich in die längst vergangenen Zeiten vertiefen mag und diese Geschichten sammelt, odnet, immer wieder anschaut. Genau so jemand ist der Sammler Jochen Raiß, der seit Jahren besondere Augenblicke aus Jedermanns Fotoschachteln zieht und sie durch seine Themen-Projekte letztlich der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt – um sie wieder mit Leben zu füllen und ihnen damit die Magie des besonderen Augenblicks wieder zu geben.

Jochen Raiß Projekt »Frauen auf Bäumen« ist in der großen Gruppenausstellung »One World« im Rahmen des neunten Umweltfotofestivals »Horizonte Zingst« zu sehen – zusammen gestellt von Kurator Klaus Tiedge (Erlebniswelt Fotografie Zingst) und Co-Kuratorin Edda Fahrenhorst (fotogloria).

© Jochen Raiss _ fotogloria _1

WAS
Ich sammele seit etwa 25 Jahren historische Amateuraufnahmen. Mein  Interesse gilt dabei Bildern von »Menschen in ungewöhnlichen Situationen« – besondere Schnappschüsse also. Ich finde die Fotos auf Flohmärkten und wühle dort in alten Schuhkartons, die vollgestopft sind mit Fotos unbekannter Herkunft. Eine Flohmarktschachtel voller Fotos hat für mich etwas geradezu Herzzerreißendes: Da haben Menschen Momente festgehalten, die für sie wichtig und besonders waren – glückliche, lustige, kuriose oder auch scheinbar banale Szenen und jetzt liegen sie alle wahllos zusammengewürfelt in einem alten Karton. Im Laufe der Jahre habe ich immer wieder Fotos von »Frauen auf Bäumen« gefunden. Ein Motiv, das mich von Anfang an fasziniert hat. Es hat in mir viele Fragen und Gedanken ausgelöst: Welches Leben lebte diese Frau im Baum? Mit wem ist sie spazieren gegangen? Wer kam auf die Idee, dass sie in einen Baum klettert und sich auf einen Ast setzt?

WO
Ich habe mittlerweile 95 Aufnahmen von »Frauen auf Bäumen«. 95 verschiedene Frauen, 95 verschiedene Fotograf/Innen, 95 verschiedene Orte.

WARUM
Genau, das ist einer der Aspekte, der das Sammeln für mich so interessant macht: dass ich meistens gar nichts über die Personen, Orte, Fotografen/Innen und Umstände weiß.
Wenn ich Bilder auf Flohmärkten, Trödelläden, etc. finde, sind die »genauen« Informationen längst verloren. Manchmal ist auf der Rückseite ein Ort, eine Jahreszahl, oder ein Name notiert, meistens aber nichts. Das allerdings lässt wiederum viel Raum für eigene Geschichten – meistens fängt mein Kopfkino dann sofort an, dagegen kann ich mich gar nicht wehren. Will ich aber auch gar nicht, denn genau das mag ich sehr.
Susan Sontag schrieb einmal: »Fotografien sammeln, heißt die Welt sammeln«. (Susan Sontag, On Photography, 1977.) Ich verstehe diesen Ausspruch für mich so, dass es beim Betrachten von Bildern so viele unterschiedliche Möglichkeiten der Interpretation gibt, wie Menschen auf der Welt leben. Und dass jede Betrachtungsweise ihre Daseinsberechtingung hat.

WIE
In der Regel sind das alles relativ kleine Papierabzüge – von sehr klein bis Postkartenformat. Unterschiedlich sowohl in der Art von Fotopapier, als auch in der Qualität des Zustands.

© Jochen Raiss

WER
Ich bin seit vielen, vielen Jahren in der Foto-Branche unterwegs und arbeite als Mitbegründer und Geschäftsführer von fotogloria jeden Tag mit professionellen Fotografen zusammen, die  auf dem neuesten Stand der Technik sind, deren Know-How riesig ist, die immer auf dem Sprung sind, um Kundenwünsche erfüllen… Das ist eine tolle Arbeit, die ich sehr mag. Aber ich mag es ebenso sehr, an den Wochenenden ganz in Ruhe und nur für mich nach fotografischen Schätzen zu schauen, die mit dem Business, dem Alltag und der täglichen Geschwindigkeit  nichts zu tun haben – sondern nur mit den abgebildeten Menschen und mit meinen fiktiven Geschichten, die ich mit ihnen erlebe.

P.S.: In diesen Tagen erscheint das Buch »Frauen auf Bäumen« im Hatje Cantz-Verlag, bitte HIER entlang.

P.P.S.: Selbstverständlich kann man die Bilder über fotogloria lizensieren oder direkt für die Wand als Print bestellen, bitte HIER entlang.